Entlang dem schönsten Eisgrat der Alpen oder – subjektiv betrachtet – Erlangen eines neuen Bewusstseinszustandes
Früh galt es aufzustehen um sich noch eine kleine Schale Birchermüasli zu sichern. Der Andrang in der Tschiervahütte war gross. Alle wollten ihren Körper mit hochwertigen Kalorien so früh wie nur möglich stärken um als erste Seilschaft loszumarschieren. Ausser dem gr3000-Kernteam (nur noch Daniel und Martin) steckten sich alle das Ziel den Piz Bernina, König und einziger 4000er der Ostalpen, zu erklimmen. Für uns war der höchste Punkt Graubündens eine “unbedeutende Bereicherung” in unserem Palmarès. Unser Augenmerk richteten wir auf den Pizzo Bianco oder auf Romanisch Piz Alv genannt. Wegen lächerlichen 5 Metern nicht zu den 74 4000er der Schweiz zählend, ist dieser markante Schneeberg immerhin der zweithöchste 3000er der ganzen Schweiz.
So machten wir uns in aller Herrgottsfrühe auf den Weg über den Vadret da Tschierva Richtung Fuorcla Prievlus, dem Zustieg zum Crast’Alva oder besser bekannt als Biancograt. Einige steile Eispassagen, ein kurzer Klettersteig und einige einfache Kletterstellen weiter erblickten wir den wohl berühmtesten Eisgrataufstieg der Alpen – in Fachkreisen auch Himmelsleiter genannt.
Nun hiess es konzentriert bleiben. Die etwas mehr als 400 Höhenmeter erstiegen wir nämlich durchschnittlich mit ca. 27 Grad, an seiner steilsten Stelle 50 Grad. Schritt für Schritt, stets auf die eigenen Schuhe blickend, fielen wir in eine Art Trance und vergassen, wie exponiert wir doch gingen über diesen gefährlichen Grat. In diesem Abschnitt blieb uns nicht einmal die Gelegenheit das herrliche Panorama zu betrachten. Wir liefen einfach, nicht ahnend, was geschehen würde bei einem Ausrutscher, oder war es ahnend!? Ich stiess dabei an die psychische Grenze meiner Möglichkeiten.
Den Nordgipfel (Pizza Bianco), Endpunkt des firnigen Teils des Nordgrats, erreichten wir moralisch total erschöpft nach etwa 1.5 Stunden. Bergführer Gian gönnte uns eine kleine Rast, welche wir bis zur letzten Sekunde nutzten uns mit Trank und Speiss zu stärken. Weiter gings in die markante Berninascharte, in die wir uns nicht gerade vorbildlich abseilten. Dort stand uns die Schlüsselstelle bei der tiefsten Einsenkung zwischen Piz Alv und Piz Bernina gegenüber. Beim Passieren dieser heiklen Stelle machte nur gerade Gian eine gute Figur. Stilistisch werden wir wohl nie einen Preis erhalten, doch bei mehr als 1000 Höhenmeter Tiefblick auf beiden Seiten wählten wir lieber die sichere Variante. Über einen grossen Felsturm gelangten wir auf den Gipfelgrat und schliesslich auf den höchsten Berg der Rhätischen Alpen. So standen wir also in luftiger Höhe auf genau 4048.6 Metern. Der Gedanke ch4000 schoss uns durch die Köpfe – verständlich bei dieser sauerstoffarmen Höhenluft.
Der Abstieg über den Spallagrat vorbei am 2. höchsten Kantonspunkt, La Spedla (4020m), gestaltete sich als Spaziergang im Vergleich zur Aufstiegsvariante. Ein paar knifflige Stellen gab es dennoch zu meistern, wie zum Beispiel ein kurzer 30cm breiter Firnteil, bei dem wir uns nicht einmal mit dem Pickel abstützen konnten.
Das Ende der Tour nun vor Augen, rannten wir dem ungestüm vorwärtsdrängenden Gian über den spaltenarmen Morteratschgletscher hinterher und erreichten so gegen 14:00 sicher und ohne Zwischenfälle die auf 3610m liegende Marco-e-Rosa-Hütte. Besten Dank an Govertical für die kompetente Führung und lehrreiche Ausbildung.
Gemütliche 1. August Tour
Solange die Seilbahn noch auf den Cassonsgrat (2634 m) fährt, wollten Daniela und ich es uns nicht nehmen lassen, den Piz Dolf in Angriff zu nehmen. Vor der planmässigen Abfahrtszeit bestiegen wir die Sesselbahn Richtung Foppa um 8.45 Uhr. In der Kabine zum Fil de Cassons traf sich eine kunterbunte Schar, zusammnegesetzt aus gemütlichen Wanderern mit Trekkingstöcken, Gleitschirmpiloten, Familien mit Kindern, Alphöhis mit Alphörnern und stinkendem Hund. Natürlich durften die ambitionierten Bergsteiger direkt nebem dem Alphirten Platz nehmen und sich seine schrägen Anektoden anhören und ein wenig seinen Bart fühlen. Oben angekommen, konnte derjenige Teil des Panoramas, welcher noch nicht durch Wolken oder Nebel bedeckt war, in aller Ruhe genossen werden, bevor wir uns dann mit gemütlichen Schritten zur Fuorcla Raschaglius hinabbegaben. Von dort führte der Weg bis über Punkt 2617 m, wo wir scharf nach rechts abbogen, um den Piz Dolf über sich bis zum 3000 m.ü.M hinaufziehende Couloir in Angriff zu nehmen. Anfangs angenehm flach, dann jedoch immer steiler werdend gewannen wir rasch an Höhe, wobei Daniela Geröll und Martin Schnee als Unterlage bevorzugte. Auf rund 3000 Metern querten wir souverän über einige rutschige, mit losem Gestein bedeckte Felsen nach rechts. Der anstrengedste Teil haten wir nun hinter uns gebracht, doch leider war auch hier die Aussicht weitgehend durch die Wolken bedeckt. Nach rund 2h konnten wir den Gipfel feierlich betreten, hatte Daniela doch das erste Mal in dieser Höhe einen Fuss auf einen Gipfel gesetzt. Deswegen musste man sich auch durch Fragen, wie “Wie weit gehts noch (rund 5 m vor dem Gipfel)?” nicht aus dem Gleichgewicht bringen lassen, bricht doch der Gipfel jäh nach Nordosten in Richtung Tristelhorn ab. Wegen dem heftigen Wind verliessen wir den höchsten Punkt kurze Zeit später wieder, um uns vom Nebengipfel an den Tiefblicken Richtung Val Bargis zu erfreuen. Im Wissen an das bevorstehende 1. August Fest rutschten die einen kräfte- und gelenkschonend über die Schneefelder ab, während die andere Hälfte lieber mühsam über das Geröll abstieg. Durch das wunderschöne Val Bargis stiegen wir immer weiter hinab, den Flimsterstein von verschieden seiten bestaunend. Der Weg zog sich zu guter Letzt doch ziemlich in die Länge, doch dank dem schönen und warmen Wetter war dies kein störender Faktor. Die Postautostelle in Bargis erreichten wir um 16.00, von wo wir wieder an unseren Ausgangspunkt zurückgelangten.
Denn sie wissen nicht, was sie (sich an)tun…
Zur Abwechslung zum Wandern am Tag wollte sich das gr3000 Team – ausnahmsweise ohne Markus, mittlerweile auch bekannt als “der Zürcher” – auch mal in der Nacht in der Bergwelt austoben, um einen vielversprechenden und romantischen Sonnenaufgang in ihrem bevorzugten Terrain erleben zu können. Entsprechend früh gestaltete sich die Abfahrt von Domat/Ems (20 vor eins), damit rechtzeitig um viertel vor zwei morgens von Naz auf 1747 m.ü.M. gestartet werden konnte, dem geneigten Leser wohl eher als Ausgangspunkt des Schlittelwegs Bergün-Preda bekannt. Zu unserem grossen Erstaunen begegneten wir trotz unseren starken Lichtkegeln weder anderen Irrsinnigen noch irgendwelchen Tieren. Welch wunderbare Gegend wir im Aufstieg im Val Mulix und danach im Val Tschitta verpassten, konnten wir mehr schlecht als recht erahnen. Dank unserem, durch den harten Arbeitsalltag mühsam gewonnen Biorythmus konnten wir weitgehend in den frühen Morgenstunden auf Pausen verzichteten. Kurzzeitig wurden aus unserem eher rasanten Trott geworfen, weil ein Stein in alle möglichen Himmelsrichtungen mit Wandermarkierungen versehen war oder der Weg so abgerutscht war, dass wir und fast wenig über den Weiterweg verunsichert waren. Nichtdestotrotz gewannen wir weiter an Höhe und erreichten bald die Mulde unter der Furschela da Tschitta. Von dort biegt die Route scharf nach links ab. Nach kurzer Kletterei über den Ostgrat erreichten wir bereits um 5 vor 5 den Gipfel des Piz Val Lunga. Der Sonnenaufgang war gemäss unserem Lexikon (“Die Südostschweiz”) aber erst auf 5.39 terminiert. So galt es, die Wartezeit mit einem kleinen Morgenessen zu überbrücken um danach alle mitgeführten Kleidungsstücke anzuzuiehen, denn auch Mitte Juli kann es auf über 3000 Metern empfindlich kalt werden.
Je näher der Zeitpunkt unseres Tageshighlight rückte, desto klarer wurde uns, dass die massiven Wolkenfelder unsere Freude wohl ziemlich stark trüben würden. Und tatsächlich, der errechnete Zeitpunkt des Sonnenaufgangs war schon verstrichten, als es auch uns langsam dämmerte, dass wir wohl eher das Morgenrot geniessen sollten, als uns weiter auf wärmende Sonnenlicht zu freuen. Ausgelaugt vom Aufstieg und von der Enttäuschung entschieden wir uns einstimmig, auf das zweite Tagesziel zu verzichten. Ersehnten wir beide das wohlige Bett näher herbei als einen weiteren Bergtriumph? Bedeutete dies bereits ein erstes Nachlassen der aus einer unversiegend zu scheinenden Quelle sprundelnden Motivation?
Zuerst galt es aber, einen kurzen und geruhsamen Abstieg über ausgedehnte Schneefelder in Angriff zu nehmen. Am “Badesee” schlechthin gönnten wir uns eine kurze Rast, nicht zuletzt auch aus der Unentschlossenheit heraus, ob wir den zweiten Gipfel wirklich wollten sausen lassen. Nach langwieriger Analyse der Situation fällten wir den, im Nachhinein betrachteten richtigen Entscheid, den so Nahe erscheinenden Gipfel doch zu besteigen. Nach einem steilen und ebenso kraftzehrenden Aufstieg konnten wir in Sonnenschein den Gipfel des Piz Salteras betreten, inzwischen wars halb 8 Uhr morgens. Über Punkt 2994 stiegen wir wiederum über die grossen Schneefelder ab, wobei absteigen wohl weit übertrieben ist. Vielmehr rutschen wir auf dem Hosenboden in hohem Tempo den Hang hinunter, auch im Andenken natürlich an die weltberühmte Schlittelbahn Bergün. So konnten wir alsbald die volle Pracht der Natur im Parc Ela geniessen, zumal die Sonne mit sich mit den kleinen Nebelfeldern über dem saftigen Grün abwechselte. Auch die beiden Murmelitere schienen sich an der klaren Morgenstimmung zu freuen und liessen sich durch uns nicht irritieren. Den ersten beiden Wanderern begegeneten wir auf Höhe der Waldgrenze. Zum Abschluss durchquerten wir nochmals das Dörfchen Naz, wo sich die wenigen Bewohner die Stumpen angezündet und einen bequemen Platz auf der Holzbank in der Sonne eingerichtet haben. So lässt sichs durchaus leben!
So früh wie noch nie (9.15), waren wir wieder am Ausgangspunkt angelangt.